Im Reich der Blinden Mehr als ein Erlebnisbericht von einem ungewöhnlichen Turnier Von Dr. Michael Negele (erschienen in der Zeitschrift SCHACH Heft 4, April 2014 Seite 48-55) Ein Auge schon macht glückselig im Reich der Blinden, sagt ein indisches (?) Sprichwort, dessen landläufige Entsprechung den Einäugigen zum König unter den Blinden erhebt. Ihrem Autor, den das Phänomen »Blindschach« seit Jahrzehnten fasziniert, bot sich beim vierten Baltic Sea Braille Chess Cup im Herbst vergangenen Jahres im Aura-Hotel in Timmendorfer Strand die Gelegenheit zum Kiebitzen bei blinden und stark sehbehinderten Schachspieler(inne)n. Durch das hautnahe Erleben sah ich mich veranlasst, Ihnen ein Bewusstsein für jene gravierende Einschränkung zu vermitteln, die das Königreich auf 64 Feldern in Dunkelheit taucht. Damit sei der Anspruch erhoben, einen Überblick über das Schach der Blinden zu bieten, aber auch mein Respekt für deren Leistung bezeugt. Erstaunlicherweise wurde das Schach »ohne Ansicht des Brettes« bereits im achten nachchristlichen Jahrhundert geschätzt. Die englischen Schachhistoriker David Hooper und Ken Whyld postulierten in The Oxford Companion to Chess, dass dabei anfänglich die Augen mit einer Binde verdeckt und die Figuren auf dem Brett ertastet wurden. Bis ins 15. Jahrhundert war Blindschach in der arabischen Welt weit verbreitet, dies ließ sich beim Zusammentragen einer historischen Betrachtung der Blindsimultan-Rekorde anhand der umfänglichen Dissertationsarbeit von Reinhard Wieber nachvollziehen. Dort stößt man auf den dunkelhäutigen Meister Said Ibn Gubair (665-714), der ohne Augenbinde und Berührung des Brettes »Blindschach spielte, indem er (vom Brett abgewandt) angab, mit welcher Figur er ziehen (wolle), und sagte: ›Mit dieser‹.« Angeblich hatte Ibn Gubair im Kerker seine Fertigkeit verfeinert, später wurde ihm jedoch vorgeworfen, diese Kunst mittels eines kleinen Spiegels, also betrügerisch, auszuüben. Die Spielweise wurde als »mit dem Rücken zum Brett« bezeichnet, selbst das Blindsimultan war unter den damaligen Meisterspielern bereits geläufig. Dies belegt das Zitat eines zeitgenössischen Chronisten von 1329, das von einem der bekanntesten Schachspieler seiner Zeit namens Nizam al-Agami berichtet. Dieser spielte in Damaskus an zwei Brettern blind und an einem dritten sehend. Schon damals erfolgte ein »Ranking« in sechs Kategorien, je geringer die Spielstärke, desto zahlreicher die Anzahl von Spielern dieser Klasse. Zwischen den Leistungsstufen waren die Vorgaben streng geregelt: Wer von einem erstklassigen Meister eine Springervorgabe erhielt, dem war ein hinreichend gutes Spielverständnis zugewiesen. Es wurde auch überliefert, dass jener Nizam al-Agami es ablehnte, gegen einen blinden Schachspieler namens Aladdin al-Qairan anzutreten: »Dieser Blinde gehört zur höchsten Klasse, ich gehöre zur höchsten Klasse als Sehender. Wenn ich ihn besiege, wird mich niemand loben, sondern man wird sagen: »Er hat (nur) einen Blinden besiegt. Besiegt er mich, dann ist es (für mich) ein großes Unglück.« Ihm war bekannt, dass al-Qairan »als Soldat erblindet war und sich in Ägypten mit erstklassigen Schachspielern gemessen und diese besiegt hatte«. Dieses Zitat belegt, dass ein blinder Meisterspieler damals durchaus befähigt war, die höchste Kategorie zu erreichen und wie hoch sein sehender Konkurrent diese Leistung einschätzte. Den enormen Einfluss des andalusischen (also arabischen) Schachs auf der iberischen Halbinsel im 12. Jahrhundert überlieferte – laut Wieber – ein Manuskript von Abu-l-Abbas Ibn Juraij, Zeitgenosse von as-Siqili (der Sizilianer), al-Yahudi (der Jude) und Ibn-an-Numan, die sich ebenfalls im Blindspiel profilierten. Im übrigen Europa soll sich als erster ein Sarazene namens Buzecca, der 1266 Florenz besuchte, mit zwei der führenden Schachspieler der Stadt im Blindspiel gemessen haben, ein drittes Spiel wurde sehend ausgetragen. Der Araber buchte zwei Gewinne und ein Unentschieden, man zollte ihm dafür größte Bewunderung. Erst knapp 500 Jahre nach Buzecca war François-André Danican Philidor (1726-1795) in der Lage, eine vergleichbare Leistung zu erbringen. Der frühe englische Schachmeister George Walker (1803-1879) erwähnte im März 1840 in Frazers Magazine in einem Artikel über Chess, without the Chess-Board den Griechen Jusuf Tchelebi, der im Jahre 1562 im syrischen Tripolis eine kuriose Blindpartie gespielt haben soll. Walker nennt fälschlich das Jahr 970 nach arabischer Zeitrechnung, was geflissentlich in der Schachliteratur – leider auch von Ihrem Autor – kolportiert wird. Bemerkenswert an der unorthodoxen Spielweise des Griechen war, dass er »mit verbundenen Augen das Brett und die Figuren ertasten durfte. Diese waren just zu diesem Zweck von ungewöhnlicher Größe gefertigt.« Wir springen um viele Generationen in das Jahr 2013 ins Aura-Hotel in Timmendorfer Strand und kiebitzen bei einer ungewöhnlichen Schachveranstaltung. Blinde Schachspieler benutzen aus praktischen Gründen meist recht kleine Steckschachs zum Turnierspiel. Ich konnte mich davon überzeugen, dass es hinsichtlich Figuren-und Brettgestaltung wahrhaft »kunterbunt« durcheinander geht. In der sich ab 1951 auf Initiative des Engländers Reginald Walter Bonham (1906-1984) – selbst blind und ein starker Schachspieler, als Mathematiklehrer an der Blindenschule in Worcester tätig – formierenden International Braille Chess Association (IBCA) wurde schon beim offiziellen Gründungskongress 1958 eine leidenschaftliche Debatte über die Vereinheitlichung des Spielmaterials geführt. So nutzten die Jugoslawen sehr große Bretter, die Figuren waren am Sockel gekennzeichnet. In Österreich, England und Irland waren die weißen, in Deutschland und der Sowjetunion die schwarzen Figuren gekennzeichnet. Einige Länder bevorzugten die Erhöhung der weißen, andere jedoch die der schwarzen Felder. Man war redlich um eine Harmonisierung bemüht: »Das Schachbrett soll mindestens 20 x 20 cm groß, die Farbe der Felder deutlich erkennbar und die schwarzen Felder sollen erhöht sein. Die Figuren müssen dem Staunton-Modell entsprechen, wobei die schwarzen Steine besonders zu markieren sind.« Solche Markierungen bestehen heutzutage zumeist in einem zusätzlichen Stecknadelkopf auf der Spitze der schwarzen Steine. Jeder blinde Spieler nutzt sein eigenes kleines Brett, offenbar einer Konvention folgend, sitzen beide Kontrahenten bisweilen vor den weißen Steinen. Während der ersten Runde des Baltic Sea Braille Chess Cup tappte ich prompt in das Fettnäpfchen, Turnierleiter Fritz-Günter Obert darauf aufmerksam machen zu wollen, dass in einer Partie beide Kontrahenten mit Weiß spielen... Im Blindenschach gilt ein Spielstein erst dann als berührt und ist somit zu ziehen, wenn der Spieler diesen bewusst aus der Sicherungsöffnung herausnimmt. Bisweilen fällt eine Figur beim Abtasten um, bei solchen »Unfällen« gilt das J‘adoube. Solches Zurechtstellen kommt häufiger vor und kann dazu führen, dass ein Stein auf ein falsches Feld gesetzt wird. Daher fordern Blindenturniere die stete Aufmerksamkeit der Turnierleitung und zudem die Fairness aller Teilnehmer in besonderer Weise. Die sogenannte »Zweibrett-Regel« ermöglicht Partien zwischen blinden und sehenden Spielern. Die gespielten Züge werden angesagt und dann auf dem Steckschachspiel ausgeführt; der Sehende hat ein normales Schachbrett vor sich, auf das er den angesagten Zug überträgt. Die von ihm ausgeführten Züge sind ebenfalls zuerst anzusagen und danach auszuführen. Ein Problem bei dieser Prozedur ist die Übermittlung des aktuellen Zuges an den Gegenspieler. Obwohl die Zugansage im Regelwerk genau definiert ist, kommen Versprecher bzw. Hör- und Übertragungsfehler durchaus vor. Deutsch ist die internationale IBCA-Sprache, dabei werden die Vertikalen von links nach rechts mit folgenden Namen belegt: Anna, Bella, Caesar, David, Eva, Felix, Gustav, Hektor. Bei rein deutschen Paarungen vernahm ich bisweilen auch Anton, Bertha, Dora usw. Die Horizontalen werden von eins bis acht durchgezählt, die Steine tragen die üblichen deutschen Bezeichnungen König, Dame, Turm, Springer, Läufer und Bauer. Folglich heißt es auch »kurze« und »lange Rochade«, für Nicht-Muttersprachler alles andere als einfach, Missverständnisse sind kaum auszuschließen. So wurde ich Zeuge eines Übermittlungsfehlers, was jedoch nur bei mir zu Verwirrung führte: Stellung von Weiß (Helga Weißflog): Kg1, Dd4, Te1, Tg4, Lc1, Lh3, Ba2, f2, g3, h2 (= 10) Stellung von Schwarz (Jan Zeeman): Kg8, Dd7, Tc3, Tc8, Sd5, Ba7, b7, e6, f7, g7, h7 (= 11) Ohnehin schon mit dem Rücken zur Wand und in Zeitnot verkehrend, stellte der Schwarze mit Sd5 nach f6 auch noch den Springer ein und wurde dieses Umstandes unmittelbar nach Ausführung seines letzten Zuges gewahr. Helga Weißflog jedoch sagte nun ausdrücklich »Dame schlägt Dame« an, Jan Zeeman indessen führte auf seinem Brett das befürchtete »Dame schlägt Springer« aus. Beide Spieler saßen vor einer unterschiedlichen Stellung und Schwarz gab eine »irreale« Partie auf! Der umsichtige Turnierleiter und das familiäre Verhältnis unter den Beteiligten ließen keinerlei Diskussion aufkommen. Turnierschach ist eine der ganz wenigen Betätigungen, die von Blinden unter annähernd gleichen Wettbewerbs-Bedingungen ausgeübt werden können. Der schachliche Wettstreit mit Sehenden ist für sie eine ganz besondere Art der Zugehörigkeit, die ihnen beträchtlichen Selbstwert verschafft. Dabei besteht für den sehenden Kontrahenten scheinbar der Vorteil, frühzeitig zu erkennen, welche Steine bzw. Brettregion sein blinder Partner besonders intensiv betastet – und dadurch Rückschlüsse auf dessen Absichten zu ziehen. Mich hat es beeindruckt, mit welcher Intensität die blinden Teilnehmer ihre kleinen Bretter mit beiden Händen abtasteten. Es war mir mitunter kaum möglich, das jeweilige Stellungsbild vollständig zu erfassen. Viel einfacher wurde das Kiebitzen, wenn ein sehbehinderter Spieler beteiligt war, der an einem normalen Turnierbrett spielte. Die Tastbewegungen blinder Schachspieler wurden Mitte der 60er Jahre in der Sowjetunion in der Arbeitsgruppe des Wahrnehmungs-Psychologen Oleg K. Tichomirow erstmals eingehend untersucht. Die objektive Registrierung dieses »manuellen Denkens« erfolgte mittels der zyklographischen Methode. Der Versuchsaufbau war denkbar einfach: Dem rechten Zeigefinger der Versuchsperson wurde ein Metallring übergestreift, an dem ein Miniaturlämpchen befestigt war. Ein Fotoapparat zeichnete im Dunkeln über einen Zeitraum von 15 bis 30 Sekunden die Bewegungen des Lämpchens, und damit des tastenden Fingers auf. Dem Probanden war es nur erlaubt, mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand zu tasten. Es erwies sich, dass die taktile Aktivität blinder Schachspieler eine Orientierungs-und Untersuchungstätigkeit ist, vergleichbar der Augen-bewegung eines Sehenden. Es werden auch Felder ertastet, auf denen keine Figuren stehen, aber in der Vorausplanung zu stehen kommen. Auch die Zeiterfassung während einer Turnierpartie erforderte für Blinde ursprünglich den Einsatz des Tastsinnes. So gibt es spezielle Braille-Schachuhren ohne Uhrglas, aber mit dem obligatorischen Fallblättchen, auf deren Ziffernblatt Punkte – alle fünf Minuten – und Striche – jede Viertelstunde – sowie tastbare Stunden- und Minutenzeiger eine »Ablesung« der verfügbaren Bedenkzeit ermöglichen. Diese bei den Blinden beliebten Modelle werden zunehmend durch digitale Schachuhren verdrängt, die mit einer Sprachausgabe versehen sind und mittels Ohrhörer abgehört werden. Dieses moderne Verfahren scheint sich durchzusetzen, hat aber auch Nachteile. Das Abhören ist aufwändig und kostet in Zeitnot wertvolle Sekunden, zudem lenkt der gesamte Vorgang den Spieler von der »Brettarbeit« ab. Die Zugnotation stellt für erblindete Schachspieler ebenfalls eine beträchtliche Hürde dar, denn zur Zeitkontrolle ist eine eigenständige Ermittlung der Züge-zahl erforderlich. Die 1924 entwickelte Marburger Schachschrift wird heute nur noch selten benutzt. Dazu bedient sich der Blinde der Stechtafel: Mit dieser Schablone werden in vorgeprägter Form, die der Würfelsechs entsprechen, sechs Punkte zu sinnvollen Zeichen zusammengestellt. Zum Einsatz kommen auch Braille-Schreibmaschinen, die allerdings relativ viel Platz benötigen. In Timmendorfer Strand nahmen die meisten Spieler digitale Sprachaufzeichnungs-Geräte in Anspruch, was ich wiederum als etwas störend empfand. Viele der sehbehinderten Spieler waren um eine eigenhändige schriftliche Aufzeichnung bemüht, ein verständlicher, aber vielleicht »falscher« Ehrgeiz. Die Zeitnotphase ist im Blindenschach eigens geregelt, in den letzten zehn Minuten entfällt die Aufzeichnungspflicht und der Turnierleiter darf helfend eingreifen. Das kann in wichtigen Wettbewerben oder bei Paarungen zwischen Blinden und Sehenden zu Schwierigkeiten führen, aber im vierten Baltic Sea Braille Chess Cup wurde nicht so erbittert gefochten, dass sich »Dramen« ereigneten. Im Gegenteil: Mich begeisterte die offen freundschaftliche Atmosphäre, in der die blinden und stark sehbehinderten Schachfreunde miteinander, aber auch mit mir umgingen. Bereitwillig wurden meine neugierigen Fragen nach dem persönlichen Schicksal und dem individuellen Zugang zum Schach in kurzen Interviews beantwortetet. Am Ende des Turnieres fühlte ich mich wie ein Mittler zwischen Hell und Dunkel! Es verwunderte weder mich noch die übrigen Teilnehmer, dass der wertungsstärkste, aber auch jüngste Teilnehmer, der stark sehbehinderte Gymnasiast Mirko Eichstaedt (*1997) aus Stücken in der Nähe von Potsdam, nach seinem Überraschungserfolg 2011 erneut ungeschlagen auf Platz 1 landete. Den Grundstein für diesen Erfolg legte er bereits in der dritten Runde mit einem schwungvollen Finale gegen Mitfavorit Peter Ellinger (Hannover, *1958). Stellung von Weiß (Mirko Eichstaedt): Kg1, De3, Tb1, Sg5, Bd4, e5, f2, g2, h4 (= 9) Stellung von Schwarz (Peter Ellinger): Kg7, Df8, Tc7, Sd7, Bb6, e6, f7, g6, h5 (= 9) Es folgte 29.d5! Tc5 [Auch 29.-exd5 30.e6 Sf6 31.exf7 und 32. Se6 (+) oder 29.-Sc5 30.d6 wäre aussichtslos.] 30.dxe6 Sxe5 31.exf7 Dd6 32.Se4 Tb5 [Ein letzter Versuch, aber den Gefallen 33.Txb5?? Dd1+ 34.Kh2 Sg4+, bzw. 33-Sxd6?? Txb1+ 34.Kh2 Sg4+ tut ihm der Weiße nicht.] 33. f8D+! Kxf8 34.Df4+ Kg7 35.Sxd6 Txb1+ 36.Kh2 Sg4+ 37.Kg3 Tb3+ 38.f3 Se3 39.Df7+ 1-0 Der 16-jährige Mirko, der neben seinem Schachtalent auch über eine hohe mathematische Begabung verfügt, ist aufgrund einer Schädigung des Sehnervs auf einem Auge blind, das andere hat eine nur geringe Rest-Sehkraft. Wie sein schärfster Konkurrent in diesem Turnier, Alexander Schneider (Hamburg, *1989), der aus Kirgisien stammt und seit zehn Jahren in Deutschland lebt, kann Mirko bei optimaler Beleuchtung noch am »großen« Brett spielen. Bis kurz vor Toresschluss lagen die beiden gemeinsam an der Spitze des Feldes, bevor Schneider gegen Ellinger eine Kurzpartie verlor. Letzterer landete zumeist im Vorderfeld bei den Turnieren des Deutschen Blinden-und Sehbehinderten-Schachbundes (DBSB), nicht zuletzt wegen seiner Fernschach-Spielstärke. Ihr Autor war eines der Opfer bei Ellingers Sieg in der 28. Deutschen Fernschach-Meisterschaft (1996-1999), die noch per Postkarte ausgetragen wurde. Damals hatte Peter bei der obligatorischen Vorstellung seine Sehbehinderung erwähnt, aber erst bei unserem persönlichen Kennenlernen in Timmendorfer Strand wurde mir das heutige Ausmaß bewusst. Dem seit 2003 wegen Erwerbsunfähigkeit verrenteten Software-Ingenieur verbleiben bei einem stark eingeschränkten Gesichtsfeld selbst unter optimalen Lichtverhältnissen kaum zehn Prozent Rest-Sehstärke. Trotzdem bemüht er sich in seinem Verein HSK Lister Turm, weiterhin am »großen« Brett zu spielen. Ein Remis gegen Großmeister Lutz Espig im Open von Bad Wörishofen 2012 zeugt von seiner Spielstärke. Ellingers große Leidenschaft ist trotz (oder gerade wegen) des vermehrten Computereinsatzes weiterhin das Fernschach, welches er auch im DBSB als Fernschachleiter aktiv unterstützt. Überhaupt hat die Kommunikation per Computer den blinden Schachspielern enorm geholfen, mittels Bildschirm-Leseprogrammen mit Sprachausgabe erschließen sie sich das Internet. Das Schreiben von Emails mittels Braille-Tastatur half immens, den Kontakt zur Außenwelt zu erweitern. Schachprogramme mit entsprechender Schnittstelle zu JAWS (job access with speech), dem von Blinden und Sehbehinderten meistgenutzten Screenreader-Programm, erlauben dem blinden Schachspieler ein deutlich substanzielleres Training als es der geringe Anteil der in Braille-Schrift verfügbaren Schachliteratur jemals ermöglichte. Davon wusste mein nächster Gesprächspartner, der ebenfalls leidenschaftliche Fernschachspieler Werner Kranz (Hamburg, *1942), ausführlich zu berichten. Verständlicherweise bedauert er, dass die neuesten Versionen vieler Schachprogramme diese JAWS-Schnittstelle nicht mehr bedienen. 1945 war der damals dreijährige Knabe, der wegen einer schlimmen Augenentzündung stationär im Krankenhaus seiner Heimatstadt Halle (Saale) weilte, versehentlich mit einer Lysol-Lösung behandelt worden. Beide Augen wurden stark verätzt, das Kleinkind erblindete. Schach erlernte Kranz als Zehnjähriger von einem Schulfreund, mit 15 Jahren trat er dem Blinden-Schachklub in Leipzig bei und gehörte später zu den stärksten blinden Spielern der DDR. Kranz arbeitete als Klavier-und Flügelstimmer, zuletzt bis zu seiner Pensionierung bei Steinways & Sons in Hamburg. Fernschach war stets seine Passion, häufig spielte er 30-35 Partien parallel, die er im Gedächtnis behielt und nur zur Kontrolle aufbaute. Auch heutzutage analysiert Kranz lieber »blind«, d. h. ohne Abtasten des Steckschachs, das er auch in Turnieren meist nur zur Kontrolle seiner erdachten Pläne nutzt. Er erkennt dabei abstrakte Stellungsstrukturen, ähnlich wie es blind spielende Meisterspieler beschreiben – und das, ohne jemals ein reales Schachbrett gesehen zu haben. Damit gehört er eher zu den Ausnahmen unter den blinden Schachspielern. Beeindruckend verlief auch mein Austausch mit Manfred Granz (Wedel, *1939), der 1946 beim Kinderspiel in einem Danziger Trümmerfeld auf die unselige Idee kam, den Blindgänger einer Brandbombe näher zu untersuchen. Es kam zur Zündung, der kaum Siebenjährige wurde zum Kriegsblinden. Schach erlernte Granz mit 13 Jahren, aber erst ab 1955, als er als Gymnasiast in der Marburger Blindenschule weilte, beschäftigte es ihn intensiv. Es wurde trotz längerer beruflicher (Granz arbeitete 43 Jahre als Protokollführer am Landgericht) und familiärer Pausen seine große Leidenschaft. Gern erinnert er sich an die Deutschen Blindenmeisterschaften in den 1970er und 80er Jahren, die damals von Spielern wie Kurt Milotzki (Essen), Hans Zeitler (Weilheim, 1938-2002), Peter Sand (Fürth), Ludwig Zier (Wunsiedel) und schließlich Dieter Bischoff (Heidelberg) dominiert wurden, und an die Blinden-Olympiade im kroatischen Pula 1972. Noch heute spielt er jeden Tag gegen seinen sprechenden Schachcomputer und trainiert damit auch sein ausgesprochen gutes Gedächtnis. Granz »visualisiert« wie Werner Kranz das Brett, die Schachfiguren definieren sich für ihn aber eher durch ihre Funktion als durch eine konkrete Gestalt. Granz kennt auch das Phänomen der Innensprache, den leisen Dialog des vorausdenkenden Schachspielers mit sich selbst. Mir hat es besonders gefallen, wie er spontan auf meinen Vorschlag einging, mit ihm eine Blindpartie »außerhalb des Protokolls« zu spielen. Im letzten Abschnitt meines Beitrages möchte ich wesentliche Aspekte meiner ausführlichen Gespräche mit dem ersten Vorsitzenden des Deutschen Blinden- und Sehbehinderten-Schachbundes, Volkmar Lücke (Norderstedt, *1942), zusammenfassen, der mich in Timmendorfer Strand überaus freundlich und vorurteilsfrei in seine Gemeinschaft einführte. Lücke, als leidenschaftlicher Schachspieler 1975 Mitbegründer des Schachklub Norderstedt, hat 2011 die Leitung des DBSB übernommen. Frühzeitig musste er sich auf das Schicksal der weitgehenden Erblindung einstellen, schon 2002 war er deshalb aus leitender Funktion bei der Hamburger Hafen und Logistik AG ausgeschieden. Ab 2005 engagierte er sich im Hamburger Blindenschach und übernahm die Leitung des Bezirks Nordost, der mitgliederstärksten Sektion im DBSB, u. a. geht die Austragung des Baltic Sea Braille Chess Cup auf seine Initiative zurück. Lücke sieht Tendenzen, das Blindenschach organisatorisch in das Behindertenschach zu integrieren, eher kritisch. Ich kann ihm nur beipflichten: Der Verlust oder die extreme Einschränkung des Sehvermögens beeinträchtigt das Leistungsvermögen im Schach weit stärker als jede andere Form der körperlichen Behinderung. Lücke selbst büßte etwa 200 Wertungspunkte ein, seitdem er auf das Spiel an zwei Brettern angewiesen ist. Überhaupt scheint das organisierte Blindenschach im Wesentlichen durch die Betroffenen getragen, derzeit sind gut 200 blinde und stark sehbehinderte Schachspieler(innen) als Mitglieder verzeichnet. Der Blindenschachbund selbst wurde 1951 von Hermann Uekermann (1916-1977), einem blinden Telefonisten aus Herford, gegründet, im gleichen Jahr fand im westfälischen Stukenbrock die erste Deutsche Meisterschaft statt. Der erste deutsche Schachverein für Blinde war bereits im Februar 1924 in Chemnitz gegründet worden, derzeit gibt es mehr als ein Dutzend solcher Vereine und Spielgemeinschaften im Bundesgebiet. Neben nationalen Meisterschaften des DBSB werden von der IBCA Welt-und Europameisterschaften für Einzelspieler und Teams ausgerichtet. Beim 63. FIDE-Kongress 1993 wurde der IBCA nicht nur Sitz und Stimme bei der FIDE eingeräumt, sondern auch das Recht, bei den Olympiaden der FIDE mit je einer Herren-und Damenmannschaft teilzunehmen. Seitdem besteht dadurch ein Anreiz für die Spitzenspieler des DBSB, sich auch international auf höchstem Niveau mit den Sehenden messen zu können. Volkmar Lücke machte mich allerdings eindringlich auf die Kehrseite solcher attraktiven Möglichkeiten aufmerksam: Immer wieder steht der Blindheitsbegriff zur Diskussion, bei internationalen Turnieren kommt mitunter der Verdacht auf, dass die festgelegte Begrenzung des Sehvermögens von zehn Prozent oder 20 Grad Gesichtsfeld-Einengung von den meldenden Verbänden nicht streng berücksichtigt wird. Dies führt zu einer Wettbewerbsverzerrung, durch die sich vor allem die vollblinden Spitzenspieler benachteiligt sehen. Der amtierende deutsche Blindenmeister, FM Oliver Müller (Bremen, *1969), langjähriges Mitglied der Schachabteilung des SV Werder Bremen, beteiligte sich erstmals 2007 an einem Turnier des DBSB. Der Maschinenbau-Ingenieur ist in einem Konstruktionsbüro beschäftigt, durch eine massive Gesichtsfeld-Einschränkung auf fünf Grad ist er stark sehbehindert. Dem 44-jährigen Junggesellen fällt es nicht leicht, Beruf und schachliche Ambitionen in Einklang zu bringen, aber das hervorragende Abschneiden bei der Olympiade in Istanbul 2012, wo Müller an Brett 4 mit 6/9 Partien und einer Elo-Leistung von 2459 seine erste IM-Norm erfüllte, motiviert ihn für die angestrebte Teilnahme an der IBCA-Einzel-WM in Griechenland 2014. Neben Müller haben andere bundesdeutsche Spitzenspieler den DBSB international erfolgreich vertreten, natürlich dürfen hier die Meister der ehemaligen DDR nicht vergessen werden: Hans Wünsch (Görlitz), Erich Kübart (Leipzig), Klaus Mickeleit (Berlin), Klaus-Peter Wünsche (Berlin) und Olaf Dobierzin (Leipzig). Zu Großmeister-Ehren hat es seit dem eingangs genannten Aladdin al-Qairan kein blinder Schachmeister mehr gebracht. Erwähnung sollen hier dennoch drei weitere Persönlichkeiten finden, die dem Blindenschach seit Jahrzehnten verbunden sind. Mit sechs Jahren erkrankte der heute 90-jährige Essener (genauer Karnaper) Bergmannssohn Kurt Milotzki (*1923) an einer Gehirnhautentzündung und verlor sein Augenlicht. Zwei Jahre später brachte man dem Knaben die Regeln des königlichen Spiels bei, der kleine Kurt war begeistert und studierte fleißig ein Schachheft in Braille-Schrift. Schon mit zehn Jahren gewann er sein erstes Turnier, zuerst spielt Milotzki im Karnaper Verein, später trat er in der ersten Mannschaft von Essen-Katernberg an. Ab 1956 beteiligte sich der blinde Meisterspieler, der bei Siemens in Essen beschäftigt war, mit steter Regelmäßigkeit an insgesamt 15 Einzelmeisterschaften des DBSB, sechsmal errang er den Titel. Die III. Einzel-WM der IBCA in Bad Berleburg 1975 verlief allerdings nicht so erfolgreich wie erhofft, Milotzki wurde »nur« Siebter. Den Blindenschachclub Essen hatte Kurt Milotzki 1970 gegründet, noch heutzutage besucht der vitale Greis, der sich erstaunlicher geistiger Frische erfreut, gern den Spielabend. Ludwig Zier (Wunsiedel, *1955) löste die »Ära Milotzki/Zeitler« im deutschen Blindenschach ab. Im neunten Lebensjahr wegen eines Glaukoms erblindet, gewann er von 1981 bis 1987 vier Meistertitel des DBSB in Folge! Bei der V. Einzel-WM der IBCA in Hastings 1982 erreichte der Oberfranke hinter Krylow, Rudenski (beide UdSSR) und Wünsche (DDR) einen respektablen vierten Platz. Damals spielte Zier in der zweiten Bundesliga für Straubing und Passau (später für Hof). Bis 2001 im Landratsamt Wunsiedel beschäftigt, widmet sich Zier heute in vorbildlicher Weise der Schachorganisation an seinem Heimatort und organisiert dort seit 2007 gemeinsam mit seiner Familie ein jährlich stattfindendes Schachfestival! »Serienmeister« des DBSB aber ist Dieter Riegler (geb. Bischoff, *1950), dessen Turnierschach-Aktivitäten 1971 im Rheinland beim SK Ratingen begannen. Als sich Ende der 70er Jahre sein Sehvermögen aufgrund einer erblichen Netzhauterkrankung drastisch verschlechterte, begann er eine Umschulung zum Informatiker an der Fachhochschule Heidelberg. Dort fand er zum Blindenschachclub Heidelberg. 1989 wurde er in Altensteig erstmals Deutscher Blindenschachmeister, 2011 gewann Riegler diesen Titel zum neunten und bislang letzten Mal, sicherlich ist mit ihm jederzeit nochmals zu rechnen. Abschließend möchte ich Volkmar Lücke zitieren, der sich für seine Amtszeit einiges vorgenommen hat: »Ich möchte die Integration blinder Schachspieler in die Gesellschaft vorantreiben und gleichzeitig das Breitenschach fördern. Besonders wichtig ist aber, dass unser Verband bekannter wird. Viele sehbehinderte Schachfreunde wissen nicht, wie sie sich das Leben mit unserer Hilfe erleichtern könnten.« Mir bleibt zu hoffen, ihn mit meinem Beitrag bei diesem hehren Ansinnen unterstützt zu haben. Weitere Informationen erhalten Sie auf www.dbsb.de oder im direkten Kontakt mit Volkmar Lücke (1vorsitzender@dbsb.de) bzw. dessen Stellvertreter Ewald Heck (presse@dbsb.de).