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Sehbehinderter Brettspieler

Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.06.2011
Von Anton Lindenmair (Augsburg) an TeleSchach gesandt.


Schach wird ihn in die Dunkelheit begleiten

Gert Schulz hat im Lauf von 25 Jahren seine Sehfähigkeit fast verloren. Beruf und Hobbys musste er aufgeben. Beim Schach gehört er zur Spitze.
Von Nadine Zeller

Gert Schulz wiegt seinen Oberkörper über dem Schachbrett hin und her. Der Kühlschrank summt, eine Uhr tickt leise, ansonsten herrscht Stille im Raum. Der Blindenhund unter dem Nachbartisch gähnt. Schulzes Gegner steht auf und schaut sich die Partien der anderen Spieler an. Derweil streicht Schulz mit seinen Fingern tastend über seine Figuren, greift die schwarze Dame und setzt sie schließlich auf eines der leicht erhöhten schwarzen Felder seines Steckschachbretts.

Gert Schulz ist sehbehindert und leidenschaftlicher Schachspieler. Im Alter von 25 Jahren erfuhr er von seiner Netzhautdegeneration. Seitdem hat er jedes Jahr ein Prozent seines Sehvermögens verloren. Er muss damit rechnen, irgendwann ganz zu erblinden. Doch das Schachspielen wird ihn auch in der Dunkelheit begleiten.

Jeden Dienstag trifft sich der Schachverein des Blinden- und Sehbehindertenbundes in Frankfurt. An diesem Tag treten sie gegen altbekannte Gegner an: die Schachfreunde der Deutschen Bahn. Manche von ihnen tragen Jeans, andere Jogginghosen. Einer der Männer löst sich aus der Gruppe und geht auf Schulz zu. Während er ihm die Hand zum Gruß gibt, sagt er: "Gert, du bist der Einzige der den Staller heute schlagen kann."

"Wenn ich Schach spiele, kann ich alles andere ausblenden"

Peter Staller, 1989 in Espoo/Finnland
Foto: Gerhard Hund Schulz grinst und fährt fort, sein Steckschachbrett aufzubauen. Peter Staller (Foto: GFHund, Espoo 1989) kann im Gegensatz zu Schulz sehen. Er spielt seit 50 Jahren Schach. Im Alter von 18 Jahren wurde er hessischer Jugendmeister, 1980 dann deutscher Meister des Weltschachbunds (Fide).

Schulz kontrolliert gerade seine Reihen, indem er mit dem Zeigefinger die obere Kante abfährt und mit dem Daumen die Figuren abklopft, er sagt: "Ich habe schon einmal gegen Staller gewonnen." Mit dreizehn Jahren begann Schulz Schach zu spielen. Siebenmal wurde er Mannschaftsmeister im Blindenschach, einmal gewann er den Titel "Deutscher Schnellschachmeister". "Wenn ich Schach spiele, kann ich alles andere ausblenden", sagt er.

Schachmatt bedeutet im übertragenen Sinne, sich in einer ausweglosen Situation zu befinden. Schulz hat abseits des Schachbretts immer Auswege gefunden: "Als ich damals eingeschult werden sollte, meinten die Augenärzte, ich sähe zu schlecht für die Regelschule." Dennoch machte er sein Abitur und anschließend die Ausbildung zum Bankkaufmann. Doch sein damaliger Arbeitgeber war nicht bereit, Anpassungen, wie beispielsweise einen größeren Bildschirm, zu unterstützen, wie Schulz berichtet.

"Ich habe sie volle Kanne angebaggert"

Darauf habe er seine Arbeitsstelle verloren. In der Abendschule habe er dann den Abschluss als Bankfachwirt gemacht und schließlich ein Studium der Informatik angeschlossen. "Ich habe durch Schach gelernt, mich auch in schwierigen Situationen zu konzentrieren", sagt Schulz heute.

Schach ist ein Sport, bei dem Sehende und Blinde unter annähernd gleichen Bedingungen gegeneinander antreten können. Der einzige Nachteil besteht darin, dass die Sehbehinderten ihre Figuren ertasten müssen und ein aufmerksamer Beobachter durchaus ihre Pläne erraten kann. Beim Schachspielen führt Durchschaubarkeit aber rasch zu einer Niederlage. Im wahren Leben hingegen profitierte Schulz von seiner Offenheit.

Er arbeitete damals noch bei der Bank, als er seine jetzige Frau kennenlernte. Anders als Schulz konnte die junge Französin sehen - dennoch fühlte sie sich isoliert. Sie vermisste den Kontakt zu anderen Muttersprachlern. Sie gingen zusammen Mittag essen. "Bis sie gemerkt hat, was passiert, war es schon zu spät", erzählt er, "ich habe sie volle Kanne angebaggert." Sie heirateten. Seine Frau liebt es, Bilder zu malen, Schachspielen interessiert sie nicht.

Die Spieler haben inzwischen ihren Platz eingenommen. An den Innenseiten der Tischreihen sitzen die Sehenden, an den äußeren Seiten die Mitglieder des Blinden- und Sehbehindertenbundes. Staller und Schulz haben den Platz am Kopfende zugewiesen bekommen. Dort treten immer die stärksten Spieler gegeneinander an. Wenn Sehende gegen Blinde spielen, gilt die Zweibrettregel. Der Blinde überträgt die laut angesagten Züge seines sehenden Gegners auf sein Steckschachbrett. Diese speziellen Schachbretter verhindern ein Umfallen der Figuren beim Betasten.

Das unberührte Bier

Als Schulz seine Diagnose bekam, setzte ein Umdenken bei ihm ein. Auf einmal konnte er sich seine Schwierigkeiten erklären. "Ich war natürlich in erster Linie verzweifelt, aber ich verspürte auch so was wie Erleichterung. Ich hatte bis dahin immer nur wahrgenommen, wie schwer mir alles fiel im Vergleich zu anderen Personen", sagt er. Nach der Diagnose habe er begonnen seine Erfolge mehr wertzuschätzen.

Staller macht den ersten Zug. Er sagt ihn laut an und drückt sofort den Knopf an der Blindenschachuhr. Nun läuft Schulzes Zeit. Erst vollzieht dieser den Zug von Staller auf dem Steckschachbrett nach, dann sagt er seinen eigenen an. Jedem Spieler stehen 45 Minuten je Partie zu. Beide wollen keine Zeit verlieren. Fünf Minuten legen sie ein irrwitziges Tempo vor, dann überlegt Schulz zum ersten Mal länger.

Sein Bier steht unberührt da. Er wippt mit seinem Knie. "F3, E1", sagt er plötzlich. Sofort kehrt Staller, der seinen Platz verlassen hatte, zurück. Er bewegt seinen Turm auf C8. Schulz gerät zunehmend in die Defensive.

Am Nebentisch seufzt ein Mitspieler und tätschelt seinem Blindenhund den Kopf. Staller hat einen Turm für einen Springer gewonnen. Ein Bekannter von Staller nähert sich und sagt schließlich: "Hier wird schön gekämpft".

Vom Durchhaltevermögen beeindruckt

Um halb sieben hört man vom Nebentisch das erste Schach. Schulze greift gerade Stallers Turm an. Doch Staller schlägt die angreifende Dame zurück. Der Turm ist wieder frei.

Die Pause naht. Die Bedienung bringt gerade den Wurstsalat herein. Der Blindenhund hebt so ruckartig den Kopf, dass das Glöckchen an seinem Halsband klingelt. Immer mehr Spieler verfolgen das Spiel zwischen Schulz und Staller. Sie haben ihre eigenen Partien schon beendet, wollen wissen, welcher der beiden Favoriten gewinnt. Kurt Rätsch kennt Staller schon lange, doch das Durchhaltevermögen von Schulz beeindruckt ihn. "Dass er so kämpft ist ganz stark", sagt er über Schulz. Er kenne nur wenige Spieler, die so lange Züge gegen Staller spielen könnten. Um 19.30 Uhr siegt Staller. Matt.

75 Minuten dauerte die Partie. Staller und Schulz schütteln sich die Hände. Schulz musste im Laufe seines Lebens viel aufgeben: das Fahrradfahren, das Autofahren und seinen Beruf. Was er niemals aufgeben wird, ist das Schachspiel.



© 8.96 by Gerhard Hund Update 28.06.2011