TeleSchach : Schach aktuell

* * * Kolumne * * *

Bilder aus der Schachgeschichte

von Robert Hübner


Bild 1 : Partie Lékó - Piket , Tilburg 1997

Die folgende Partiekommentierung stellt einen der Beiträge dar, die vom Autor für das Ende Januar 1998 erscheinende Turnierbuch des „Fontys Schaaktoernooi Tilburg 1997“ (Herausgeber: „New in Chess“; Texte von Dirk Jan ten Geuzendam; Analysen von den Spielern und einigen Gastkommentatoren) verfaßt worden sind. Er hat ihn für die vorliegende Veröffentlichung vom Holländischen ins Deutsche übertragen.

28. Oktober 1997


P. Lékó - J. Piket, Tilburg 1997, 7. Runde; Sizilianisch.

1. e2-e4 c7-c5 2. Sg1-f3 Sb8-c6 3. d2-d4 c5xd4 4. Sf3xd4 g7-g6 5. c2-c4 Lf8-g7 6. Lc1-e3 Sg8-f6 7. Sb1-c3 Sf6-g4 8. Dd1xg4 Sc6xd4 9. Dg4-d1 Sd4-e6

In dieser Stellung sieht man auch die Fortsetzungen 9...Sc6 und 9...e5 recht häufig. Eine ins Einzelne gehende Besprechung dieser Möglichkeiten würde zu weit führen; sie führen zu sehr verschiedenen Stellungstypen, und es ist Geschmackssache, welchen der drei Züge man vorzieht.

10. Ta1-c1

Schwarz droht die Bauernstruktur des Weißen am Damenflügel mit 10...Lc3:+ zu zerstören; dies könnte zum Beispiel nach 10.Le2 geschehen. Weiß deckt deshalb den Springer mit dem Turm. Zu demselben Zweck wird auch oft 10.Dd2 gespielt; aber nach 10...Da5 muß Weiß dann doch noch 11.Tc1 ziehen. Danach wird der Zug Sc3-d5 nicht dieselbe Drohkraft besitzen wie später in der vorliegenden Partie (siehe den 14. Zug von Schwarz); die Partie Karpov-Larsen, Brüssel 1987, die in der Anmerkung zum 12. Zuge von Schwarz zitiert wird, liefert ein Beispiel dafür, welchen Charakter die Stellung nach dem Damentausch annimmt.

Der Textzug hält dem Weißen mehr Möglichkeiten offen als die Fortsetzung 10.Dd2.

10. ... Dd8-a5

Die Dame wird frühzeitig ins Spiel gebracht, um am Kampf um die schwarzen Felder teilzunehmen. Schwarz hält sich die Wahl zwischen langer und kurzer Rochade offen. Andere Züge wie zum Beispiel 10...0-0 oder 10...b6 sind passiver.

11. a2-a3

Weiß spielt vorsichtig und nimmt dem Schwarzen die Möglichkeit zu der Fortsetzung 11...Lc3:+ 12.Tc3: Da2:. Nötig ist dies nicht; nach 11.Ld3 (oder 11.Le2) 11...Lc3:+ 12.Tc3: Da2: 13.Dc1 Da5 14.c5 hat Weiß eine gefährliche Initiative für den geopferten Bauern.

11. ... b7-b6 12. Lf1-d3

Früher zog man meistens den Aufbau mit Lf1-e2 vor. Nach 12.Le2 Lb7 muß Weiß den angegriffenen Bauern auf e4 mit 13.f3 decken, und nach den weiteren Zügen 13...g5 14.0-0 h5 15.Tf2 (mit der Absicht Le2-f1 und eventuell Tf2-d2) entsteht ein scharfer Kampf.

Der Textzug gefällt mir besser. Der Bauer auf e4 bedarf nun keiner zusätzlichen Deckung, und Weiß kann zunächst ohne f2-f3 auskommen; wenn er nichts Besseres hat, kann er noch stets auf den oben skizzierten Plan (f2-f3 und Tf1-f2) zurückgreifen.

12. ... g6-g5

Schwarz spielt auf die vollständige Beherrschung der schwarzen Felder, so daß seine Dame auf e5 eine langfristige Bleibe finden kann. Nach 12...Lb7 könnte Weiß sofort mit 13.f4 vorgehen; 13...Sc5 14.0-0 Lc3: 15.Tc3: bringt dem Schwarzen nichts ein, denn 15...Se4: scheitert an 16.Le4: Le4: 17.Dd4 und 15...Le4: an 16.b4. In diesem Abspiel wird der Vorteil des Zuges 11.Ld3 gegenüber 11.Le2 deutlich.

Die Idee g6-g5 wurde, falls ich mich nicht irre, von B. Larsen in der Partie S. Gligoric - B. Larsen, Dallas 1957, in die Praxis eingeführt. Er kam in Brüssel 1987 mit gutem Erfolg darauf zurück; er wandte sie in seinen Partien gegen A. Karpov und N. Short an. Im Turnierbuch (The Second S.W.I.F.T. International Chess Tournament [ohne Autorenangabe], Amsterdam 1987) erzählt er einiges über ihre Entstehungsgeschichte in seinen Anmerkungen zur Partie gegen Short (S.101).

Eine wichtige Partie mit diesem System fand auch in Tilburg 1987 zwischen L. Ljubojevic und V. Kortchnoi statt; V. Hort hat sie im Turnierbuch mit Anmerkungen versehen (The Eleventh Interpolis Chess Tournament [ohne Autorenangabe], Amsterdam 1987, S.50-51). In allen diesen Partien wählten die Anziehenden einen etwas anderen Aufbau als der Führer der weißen Steine in der vorliegenden Partie; entweder steht der Läufer des Weißen auf e2 oder seine Dame auf d2 (oder beides). Dennoch ist es vielleicht nicht überflüssig, den Verlauf dieser Partien wiederzugeben, um einen Eindruck von dem Ideenvorrat in dieser Art von Stellungen zu geben.

1) A. Karpov - B. Larsen, Brüssel 1987.

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cd4: 4.Sd4: g6 5.c4 Lg7 6.Le3 Sf6 7.Sc3 Sg4 8.Dg4: Sd4: 9.Dd1 Se6 10.Dd2 Da5 11.Tc1 b6 12.Le2 Lb7 13.f3 h5 14.0-0 g5 15.Tfd1 d6 16.Sd5 Dd2: 17.Td2: Le5

18.b4 Tc8 19.a4 h4 20.Lf1 f6 21.Ta2 Ld4 22.Kf2 Kf7 23.a5 Ld5: 24.ed5: Le3:+ 25.Ke3: Sf4 26.Kd2 Tc7 27.ab6: ab6: 28.Ta6 Thc8 29.Tb6: Sd5: 30.Tb5 Sf4 31.Ta5 Sg6 32.c5 Se5 33.Tc3 dc5: 34.bc5: Tb8 35.Lb5 Td8 36.Ke2 Sc6 37.Lc6: Tc6: 38.g3 Td4 39.Tb5 hg3: 40.hg3: Td5 41.g4 Tc7 42.Ke3 e6 43.Tc2 Ke7 44.Tc3 Kf7 45.Tc2 f5 46.gf5: ef5: 47.Kf2 Kg7 remis.

2) N. Short - B. Larsen, Brüssel 1987.

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cd4: 4.Sd4: g6 5.c4 Lg7 6.Le3 Sf6 7.Sc3 Sg4 8.Dg4: Sd4: 9.Dd1 Se6 10.Tc1 Da5 11.Le2 b6 12.0-0 Lb7 13.f3 g5 14.a3 De5 15.Dd2 h5 16.Tfd1 d6 17.b4 h4 18.Sd5 Kf8 19.Lf1 Lc6

20.Dd3 Sf4 21.Sf4: gf4: 22.Ld4 Dd4:+ 23.Dd4: Ld4:+ 24.Td4: Th5 25.c5 dc5: 26.bc5: b5 27.e5 h3 28.Te1 hg2: 29.Lg2: Tc8 30.Tf4 Ld5 31.e6 f6 32.h4 Tc5: 33.Lh3 Lc6 34.Kf2 Thd5 35.Te3 f5 36.h5 Kg7 37.h6+ Kh6: 38.Th4+ Kg7 39.f4 Tc2+ 40.Ke1 Tc1+ 41.Ke2 Le8 42.Tg3 Lg6 43.Th5 Tc2 44.Ke1 Tc3 45.Tc3: Lh5: 46.Tc7 Kf6 47.Ta7: Td4 48.Lf5: Kf5: 49.Te7: Td5 50.a4 ba4: 51.Ta8 Td4 52.Ta5+ Kg4 53.e7 Le8 54.f5 Kg5 55.Ta8 Te4+ 56.Kd2 Te7: 57.Kc3 Kf5: 58.Kb2 Ke4 59.Td8 Ld7 60.Tb8 Kd4 61.Tb7 Te2+ 62.Ka3 Te3+ 63.Kb2 a3+ 64.Ka1 Le6 65.Tb1 Kc3 66.Tc1+ Kb4 67.Tb1+ Lb3 68.Tc1 Te2 69.Tg1 Td2 70.Tg4+ Lc4 71.Tg1 Ld3 72.Tc1 Lc2 73.Ka2 Le4+ 74.Ka1 Ld3. Weiß gibt auf.

3) L. Ljubojevic - V. Kortchnoi, Tilburg 1987.

1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cd4: 4.Sd4: g6 5.c4 Lg7 6.Le3 Sf6 7.Sc3 Sg4 8.Dg4: Sd4: 9.Dd1 Se6 10.Tc1 Da5 11.Dd2 b6 12.Ld3 Lb7 13.0-0 g5 14.Tfd1 d6 15.a3 h5 16.Tc2 Ld4 17.b4 De5 18.Sd5

Le3: 19.fe3: Tc8 20.Tf1 Sg7 21.Df2 f6 22.De1 0-0 23.a4 h4 24.Da1 Da1: 25.Ta1: Ld5: 26.ed5: f5 27.Tf2 Tc7 28.a5 Kh7 29.g4 hg3: 30.hg3: Kg8 31.Kg2 Tf6 32.ab6: ab6: 33.Ta8 Tf8 34.Ta6 Tb8 35.b5 Kf7 36.e4 Kf6 37.ef5: Ke5 38.Ta4 Se8 39.f6 Sf6: 40.Tf5+ Kd4 41.c5+ Kd3: 42.Tf3+ Kc2 43.c6 Kb2 44.Taa3 g4 45.Tfb3 Kc2 46.Te3 Kb2 47.Tad3 Kc2 48.Ta3 remis

Obwohl es scheint, daß die Aufstellung des Weißen in der Partie Lékó - Piket geeigneter ist als die früheren Versuche, die Absichten von Schwarz zu bekämpfen, so habe ich doch den Eindruck, daß die Stellung des Nachziehenden auch hier befriedigend ist.

13. 0-0 Lc8-b7 14.Tc1-c2

Weiß bereitet 15.Sd5 vor.

14. ... Lg7xc3

In dieser Stellung darf Schwarz nicht erlauben, daß sich der Springer des Weißen auf d5 festsetzt, wie Larsen dies in seiner Partie gegen Short tat. Bei der Folge 14...De5 15.Sd5 könnte Weiß nach passender Vorbereitung bald mit großer Kraft f2-f4 durchsetzen. Es ist auch wichtig, daß er 15...Ld5: mit 16.de5: beantworten kann, weil sein Läufer auf e3 gedeckt ist; dies wäre nicht der Fall, wenn er f2-f3 gespielt hätte.

Der Abtausch des Königsläufers kommt überraschend, ist aber nicht schlecht. Schwarz behält auch ohne diese Figur genügend Einfluß auf den schwarzen Feldern.

15.Tc2xc3 Da5-e5 16.Tf1-e1

Weiß muß den Bauern auf e4 decken und hat deshalb keine Zeit, f2-f4 mit 16.g3 vorzubereiten.

16. ... h7-h5 17.Le3-d2

Jetzt sind die Aussichten von Weiß, f2-f4 durchsetzen zu können, sehr gering geworden; auf g2-g3 kann jederzeit g5-g4, auf f2-f3 kann h5-h4 erfolgen. Deswegen plant er, die Dame des Schwarzen mit Tc3-c2 nebst Ld2-c3 von e5 zu vertreiben.

17. ... Th8-h6

Dies ist ein nützlicher prophylaktischer Zug: Schwarz entfernt seinen Turm aus der Diagonale a1-h8. Er kann auf der 6. Reihe von Nutzen sein; bisweilen könnte zum Beispiel Se6-f4 nebst Th6-d6 in Betracht kommen. Der Textzug ruft eine unerwartete Reaktion hervor.

18. h2-h4

Überraschend ergreift Weiß am Königsflügel die Initiative. Ich glaube, daß nicht viele Spieler in dieser Stellung zu einem solchen Plan gegriffen hätten. Er ist gewagt, wie der Partieverlauf, aber nicht schlecht, wie die Analyse lehrt. Nach einer ruhigeren Fortsetzung, zum Beispiel 18.Tc2 Sf4 19.Lc3 De6, wäre die Stellung im Gleichgewicht.

18. ... Th6-g6

Dies ist die richtige Entscheidung: Schwarz gibt einen Bauern her, um so bald wie möglich Angriffsaussichten zu erhalten. Nach 18...f6 19.Df3 mit der Drohung 20.Df5 erhält Weiß eine sehr angenehme Stellung:

19. h4xg5

19.Dh5: scheitert an 19...0-0-0 20.hg5: (Weniger aktive Züge sind natürlich hoffnungslos) 20...Th8

19. ... Se6xg5 20.Dd1xh5

20.f4 wird natürlich mit 20...Sh3+ widerlegt.

20. ... De5-g7

Es gibt keine andere ausreichende Verteidigung gegen die Drohung 21.f4.

21. Kg1-f1

Jetzt wird 21.f4 natürlich mit 21...Se4: 22.Le4: Tg2:+ bestraft; aber es kam sehr in Betracht, den gefährlichen Springer abzutauschen.

Mit der Fortsetzung 21.Lg5: Tg5: 22.Df3

kann Weiß gleiches Spiel erzielen:

Die Stellung ist meiner Meinung nach jedoch auch nach dem Textzug im Gleichgewicht.

21. ... Sg5-e6

Dies ist die energischste Fortsetzung. Nach 21...0-0-0 muß Schwarz außer der Folge 22.Lg5: Tg5: 23.Df3 auch 22.c5 Th8 23.Dd1 (23.cb6:+? Dc3:) berücksichtigen.

22. g2-g3

Hier verfügte Weiß noch über die Möglichkeit, seinen König mit 22.Ke2 am Damenflügel in Sicherheit zu bringen, ohne größere Nachteile in Kauf nehmen zu müssen:

Der Textzug ist nicht schlechter. Weiß muß einen heftigen Angriff über sich ergehen lassen; aber er hat genügend Gegenspiel.

22. ... 0-0-0 23.Ld2-e3 ?

Weiß verliert seine Ruhe nicht; aber nach dem folgenden Manöver des Schwarzen ist sein Schicksal besiegelt. Jetzt kann er nicht mehr mit dem König zum Damenflügel entweichen, denn nach 23.Ke2 Th8 hat seine Dame kein Fluchtfeld; er mußte unmittelbar zu kräftigen Gegenmaßnahmen übergehen. Dazu gab es zwei Möglichkeiten:

23. ... Td8-h8 24. Dh5-f3

24.Dd1 bietet keine Rettungsmöglichkeiten; nach 24...Tg3: wird Weiß schnell mattgesetzt, zum Beispiel:

24. ... Th8-h2

Jetzt hat Weiß gegen die simple Drohung 25...Tf6 26.Dd1 Dg3: keine ausreichende Verteidigung mehr. Nach 25.Ke2 Tf6 verliert er seine Dame. Deshalb macht er - zu spät - einen letzten verzweifelten Versuch, ein Gegenspiel einzuleiten.

25. c4-c5 Tg6-f6

Schwarz braucht sich um das harmlose Schachgebot, das der Weiße droht, nicht zu kümmern; sein Angriff schlägt schneller durch.

26. c5xb6+ Kc8-d8 27.Le3-f4

Nach 27.ba7: Tf3: 28.Lb6+ fällt Schwarz nicht mit 28...Ke8 in die von Weiß zu guter Letzt noch ausgelegte Falle: 29.a8T+ La8: 30.Tc8+ und matt, sondern spielt 28...Sc7 mit leichtem Sieg (29.Tc7: Thf2:+).

27. ... Se6-d4

Es gab zwei andere Gewinnfortsetzungen:

Der Textzug ist bei weitem das Einfachste.

28. Df3-e3 Dg7-g4

Natürlich spielt Schwarz nicht 28...Th1+ 29.Kg2 Te1:, denn nach 30.Lc7+ Ke8 31.De1: steht Weiß auf Gewinn.

29. De3xd4

29. ... Dg4-f3 ??

Nach 29...Tf4: hat Weiß keine Verteidigung gegen die Drohung 30...Th1+ 31.Kg2 Dh3 matt und muß aufgeben. Jetzt verkehrt sich das Ergebnis der Partie ins Gegenteil.

30. Dd4xd7+

Schwarz gibt auf. Nach 30...Kd7: 31.Lb5+ hat er eine Figur eingebüßt.

Der Führer der schwarzen Steine verdient Mitgefühl für diesen herben Unglücksfall.



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Update 17.07.2001